Das Gleichnis vom blinden Blindenführer
Kürzlich habe ich von einer alten Dame gehört, die eine vielbefahrene Strasse überqueren wollte. Sie zögerte, denn der Verkehr war sehr stark und es gab keine Ampel.
Nachdem sie schon einige Zeit gewartet hatte, kam ein Mann zu ihr mit der Frage: „Kann ich mit Ihnen die Strasse überqueren?“ Erleichtert nahm sie dieses Angebot an und fasste seinen Arm. Der Weg, den die beiden jetzt gingen, war alles andere als sicher. Der Mann wurde selbst unsicher, als er sich mit der Frau in einem Zick-Zack-Kurs durch den Verkehr schlängelte. „Sie haben uns beinahe getötet“, erklärte die Dame ärgerlich, als sie endlich das Trottoir der anderen Seite erreichten, „Sie gingen ja wie ein Blinder.“ „Ich bin blind“, gab der Mann zur Antwort, „darum habe ich Sie ja gefragt, ob ich mit Ihnen die Strasse überqueren könnte“.
Ich staune immer wieder, wie gut stark sehbehinderte und blinde Mitmenschen den modernen Verkehr bewältigen, mit einem Blindenlangstock oder Blindenhund. Tastbare Bodenleitsysteme und Blindenampeln helfen ihnen dabei. Zur Zeit des Neuen Testaments gab es das alles noch nicht. Und da auch noch keine Antibiotika und Augenoperationen zur Verfügung standen, lebten wohl recht viele Blinde in Israel. Immer wieder werden sie in den Evangelien erwähnt. So auch in der Bergpredigt, als Jesus den folgenden Vergleich gebrauchte und zu seinen Jüngern sagte: „Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ (Lukas 6,39).
Das Sprichwort vom blinden Blindenführer war in der Antike gut bekannt. Man versteht es sofort, denn die Antworten auf die rhetorische Fragen von Jesus waren klar: Nein! Ein Blinder kann einem anderen Blinden nicht den Weg weisen. Ja! Beide werden in eine Grube fallen. Doch was genau wollte Jesus damit seinen Jüngern veranschaulichen und erklären? Von welchen Blinden spricht er im übertragenen Sinne?
Nicht nur unsere Augen, sondern auch unser Herz und Verstand können verblendet und blind sein. Gerade den Pharisäern warf Jesus immer wieder vor, sie seien „blinde Blindenführer“, die das Volk in die Irre führen würden. (Mt 15,12.14; 23,16-24).
Er beschuldigte sie, andere belehren zu wollen, nur nicht sich selber (Röm 2,19-21).
Sie führten ihre Schüler ins Verderben mit ihrer Selbstgerechtigkeit, Heuchelei und Inkonsequenz im Umgang mit Gottes Wort. Genau davor warnt nun Jesus seine Nachfolger. Er sagt: „Seid nicht pharisäisch, sondern barmherzig (V. 26). Verurteilt andere nicht (V. 37) und hütet euch davor, voreilige Urteile über andere zu fällen (1Kor 4,5)“.
Wie oft habe ich mich schon über den Splitter im Auge meines Mitmenschen empört, ohne den Balken in meinem eigenen Auge zu bemerken! (vgl. Luk 6,41) Genau in diesen Momenten werde ich zu einem „blinden Blindenführer“, der nicht mehr seelsorgerlich und barmherzig mit den Schwächen anderer umgeht. Nur mir gegenüber bin ich grosszügig und barmherzig, indem ich meine Schwächen und Fehler gern bagatellisiere oder verstecke. Und was meint Jesus dazu? Er sagt: „Du Heuchler! Entferne zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du klar sehen, um auch den Splitter aus dem Auge deines Mitmenschen zu ziehen!“ (V. 42b). Das Brett vor dem Kopf muss also weg. Dann bin ich nicht mehr blind und kann wieder klar und scharf sehen. Vor Gott prüfe ich mich daher und bitte ihn aufrichtig um Selbsterkenntnis. Dann bekenne ich meine Schuld und nehme Christi Vergebung und die verändernde Kraft des Heiligen Geistes in Anspruch. Erst dann kann ich anderen den Weg weisen zu Jesus, der unsere innere Blindheit heilt und uns einen wunderbaren Durchblick im Leben schenkt. Möchten Sie das nicht auch?
Pfarrer emeritus Jürgen Neidhart
Buchautor des Buches "Stärkendes Seelenfutter"