Der andere Gotthelf
Die Werke von Jeremias Gotthelf sind von schriftstellerischer Brillanz und bleibender Bedeutung. Sie wirkten über das Emmental, das Bernbiet und die Schweiz hinaus und sind auch in unserer Zeit noch aktuell. Gotthelf hat in drei «Wellen» gewirkt und das Evangelium weitergegeben: In der Form der Erzählung, dann durch Radio-Hörspiele und schliesslich durch die Filme. Jetzt lässt ein neues Buch den anderen Jeremias Gotthelf neu zu Wort kommen.
Das Wirtshaus hat mehr Zulauf als das Gotteshaus. Die Rede ist von einer Zeit, die rund 180 Jahre zurückliegt. In dieser Zeit nahm der Pfarrer in der weitläufigen Kirchgemeinde Lützelflüh die Schriftstellerei als neues Medium zu Hilfe. Wie die Bibel erzählt er Geschichten und wie Jesus redet er in Gleichnissen. Sein Stoff ist das bäuerliche Leben im Emmental, wo er selbst lebt und wirkt. Der Pfarrer heisst Albert Bitzius (1797–1854), der mit dem Pseudonym Jeremias Gotthelf bekannt wurde.
Von Geiz bis Grosszügigkeit
Mit Gotthelf und seinen Werken beschäftigen sich Philologie (Germanistik), Geschichte und Theologie. Die weitreichende Bedeutung basiert auf einem gegenüber der Predigt neuem Medium: dem Wort in Gestalt von Novelle und Roman. Man mag es als Fügung Gottes ansehen, dass später neue Medien Gotthelfs gleichnishafte Geschichten nochmals unter die Leute brachten, diesmal im Berner Dialekt: In den 1940/50er Nachkriegsjahren waren es Hörspiele von Ernst Balzli, die die Menschen vor dem Radio versammelten. Rund zehn Jahre später wurden die Werke dann von Regisseur Franz Schnyder mit bekannten Schauspielern verfilmt. Die bekanntesten Werke waren Ueli der Knecht (1841) und Anne Bäbi Jowäger (1843/44). Dabei zeigt sich ein grosses Spektrum von gutem und problematischem Verhalten: von Geiz bis Grosszügigkeit, von Eigensinn bis Hingabe, von Hinterlist bis Treue. Dazu gehören in Gotthelfs deftiger Sprache kräftige Ausdrücke und eine gehörige Portion Humor.
Mit dem «anderen» Gotthelf soll ein für ihn wichtiges, aber oft wenig beachtetes Anliegen ins Licht gestellt werden:
Dem Lehrer und Verkünder des Gottesworts, dem Kämpfer gegen die Trennung von Glauben und Leben, von Christentum und Gesellschaft. Der gelebte christliche Glaube erweist sich als Mitte und lebensgestaltende Kraft des familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Solcher Glaube nährt und bewährt sich in Herausforderungen und Konflikten. Ohne diesen Glauben fehlt der Zusammenhalt in den Häusern und im öffentlichen Leben. Vieles bricht auseinander und die angebliche Freiheit wird zum Kampf der Egoismen. Fixierungen auf das Eigene, Unzufriedenheit und das grenzenlose Streben nach mehr und angeblich Besserem führen ins Elend. Beides zugleich zeigt sich eindrücklich und unterschiedlich ausgeprägt in den verschiedenen Erzählungen.
Fromm, aber nicht zurecht kommen
Jeremias Gotthelf schrieb seine Werke in Zeiten grosser Umwälzungen. Die Botschaft hat in der heutigen, ebenso herausfordernden Zeit nichts an Bedeutung verloren. Die geniale Verbindung von Erzählung, Verkündigung und Belehrung bei Gotthelf bringt Pfr. Dr. Beat Weber als Autor des neuen Buches schön zur Geltung. So können wir neu auf Gotthelfs Worte hören – und durch sie auch auf Gottes Reden. Weber: «Wer die Bibel, aber nicht das Leben kennt, ist zwar fromm, findet sich aber im Leben nicht zurecht. Und wer sich mit dem Leben begnügt, ohne das Wort Gottes im Herzen zu tragen, findet weder Gott noch gelangt er zum Heil.»
Markus Baumgartner, Dienstagsmail vom 29.09.2020